Woher kommt unsere Liebe zum Meer und die ewige Sehnsucht nach einer Insel?

Die Fähre braucht vom Festland eine Stunde auf die kleine Nordseeinsel, manchmal länger, je nach Wellengang. Hier lebt in einem der zwei Dörfer seit fast 300 Jahren die Familie Sander. Drei Kinder hat Hanne großgezogen, ihr Mann hat die Familie und die Seefahrt aufgegeben. Nun hat ihr Ältester sein Kapitänspatent verloren, ist gequält von Ahnungen und Flutstatistiken und wartet auf den schwersten aller Stürme. Tochter Eske, die im Seniorenheim Seeleute und Witwen pflegt, fürchtet die Touristenströme mehr als das Wasser, weil mit ihnen die Inselkultur längst zur Folklore verkommt. Nur Henrik, der Jüngste, ist mit sich im Reinen. Er ist der erste Mann in der Familie, den es nie auf ein Schiff gezogen hat, nur immer an den Strand, wo er Treibgut sammelt. Im Laufe eines Jahres verändert sich das Leben der Familie Sander von Grund auf, erst kaum spürbar, dann mit voller Wucht. (Penguin Verlag)

Der Decksmann friert aus einem Grund, den er wohl selbst nicht kennt. Er tut nur das, was schon die Vorbesitzer seiner Jacke taten: das kleine Frieren üben, weil irgendwann das große Frieren kommen wird. Der große Sturm, die große Flut oder die eine große Welle. Wer dann nicht frieren kann, ist schon verloren.

Wer so eindringlich über den Kampf des Menschen mit der Natur schreibt, über elementarste Gefühle, über das Verschwinden des Alten zugunsten der vermeintlich besseren Moderne, ist Eine, die sich die Dinge genau besieht und dafür eine Sprache findet, die wenn es sie durch sie nicht gäbe, erfunden werden müsste.

Dörte Hansen hat dieses besondere Talent bereits in ihren ersten beiden Büchern „Altes Land“ und „Mittagsstunde“ unvergleichlich bewiesen. Und nun erhebt sie es zur Kunst.

Auf eine der Kernfragen zu ihrem Schreiben – warum in ihren Büchern so oft vom Verschwinden die Rede ist – findet sie jedoch nur schwer eine Antwort.

Vielleicht ist das meine melancholische Art, ich kann es nicht erklären. Ich staune selbst, denn im dritten Buch, da verschwindet ja auch alles.

Lyrik, friesisch herb. Kein Widerspruch in sich!

Dörte Hansens dritter, lang erwarteter Roman Zur See ist ein Gedicht, im wahrsten Sinne des Wortes. Wortgewaltig wie die Nordsee, die stürmt und kracht, wie die Insel, Sehnsuchtsort für die Einen, Heimat für die Anderen mit Ecken und Kanten. Wie die Menschen, die Gewinner und die Verlierer, die Träumer und die Desillusionierten, die Zugezogenen auf Zeit und die Hierbleiber, die die Mülltonnen der Festländer nach Neujahr in die Carports zurückstellen.

Zur See von Doerte Hansen
© Sven Jaax

Dörte Hansen

Zur See

ISBN: 978-3-328-60222-4

2022, 256 Seiten

Hardcover: 24,00 €

ePub: 19,99 €

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Gut Ding braucht Weile

Ob es die Zeit ist, die sie sich lässt, dass jede Neuerscheinung stets zur Punktlandung gereicht? Gut Ding braucht eben Weile, könnte man glatt eine ihrer handelnden Personen sagen hören. Denn es sind Menschen mit Prinzipien, die ihre Bücher bewohnen, auch wenn sie selber daran zerbrechen. Sie befinden sich in der Auseinandersetzung mit der Natur, längst nicht mit ihr im Einklang und doch voller Respekt und einer höheren Gewissheit, dass sie die Stärkere bleibt, auch wenn die Kreatur sich noch so abstrampelt, ihr zuvor zu kommen.

Wir fühlen uns ertappt

Wir fühlen uns ertappt. Wir alle waren schon im großen Fliegenschwarm, der getarnt als Tagesgäste eine kleine Insel kaperte und sich wunderte, wo sie denn nun sind, die Idylle und die Stille. Und wehe, das WLAN ist schwach, der Regen nasser als bei uns, das Frühstück ohne Bio und sind die Badelatschen im Inselkirchlein nicht so gern gesehen.  

Dörte Hansen seziert den Mikrokosmos einer Insel und einer Familie, von Menschen, die sich mühen mit dem Leben, den Ansprüchen, vor allem an sich selbst, mit dem Schicksal und dem Aufbegehren, mit dem Weggehen, dem Warten und dem Wiederkommen. In allen finden wir uns ein wenig wieder, in den Starken und in den Schwachen. Ihre Widersprüchlichkeit, die Touristen mit Argwohn zu betrachten und doch für sie Männchen zu machen, ist sympathisch.

Fischer, die sich für die Touristen Fischerhemden kaufen, Trachtenfrauen, die für die Fremden tanzen, Shanty-Männer, die wie Matrosen singen und noch nie in einem Sturm gesegelt sind.“

Ihre gewählte Einsamkeit und Eigenständigkeit machen nur Sinn in der Gemeinschaft, die selbst ein gestrandeter Wal zwar auf die Probe stellt, aber nicht auseinandertreiben kann.

Silberner Faden Humor

In die Inseltracht webt Dörte Hansen stets einen silbernen Faden des Humors. Das nimmt uns die Schwere von Trauma, Verlust und Unvermeidlichkeit. Es entlockt uns ein Lächeln zu lesen, wie der zwangsweise Unterschlupf findende erwachsene Sohn das von seiner Mutter gewählte Fernsehprogramm allabendlich mit ihr zusammen über sich ergehen lässt, aber bei Kussszenen lieber eine rauchen geht. Wir schmunzeln, dass die Wiederkehr des Vaters nach Jahren der Abwesenheit insgeheim begrüßt, aber mit keinem Wort kommentiert wird. Wir leiden mit dem Inselpfarrer in der dunklen Jahreszeit an der Pastoritis und feiern mit ihm an Ostern seine Auferstehung, auch wenn Christus daran diesmal nicht beteiligt ist.

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