Ein sonnenstrahlendes Leseband

Klara und die Sonne. Was es heißt zu lieben

„Das Herz, von dem Sie sprechen“, sagte ich. „Das könnte tatsächlich das Schwierigste sein, das ich zu lernen habe. Es könnte wie ein Haus mit vielen Räumen sein. Trotzdem denke ich, dass eine eifrige KF im Lauf der Zeit jeden einzelnen Raum betreten und einen nach dem anderen erkunden und kennenlernen könnte, bis sie alle wie ihr eigenes Zuhause werden.“

Klara ist eine KF, eine künstliche Freundin. Aus ihrer Sicht, der eines menschenähnlichen Roboters, erzählt sie die Geschichte dieses Romans, der in den USA einer nicht allzu fernen Zukunft spielt. KFs leisten Kindern Gesellschaft, werden nicht selten ohne Bedacht von ihnen ausgesucht und landen u.U. schon bald wie ausgedientes Spielzeug auf Flohmärkten oder im Müll. Da ist Josie anders, Klaras 14- jährige, schwer kranke menschliche Freundin. Sie baute bereits im Schaufenster persönlichen Kontakt zu Klara auf und setzte ihre Wahl gegen den Widerstand ihrer zunächst skeptischen Mutter durch. Ihr Verhältnis ist und bleibt respektvoll und freundschaftlich, wenn auch mit kleinen Eintrübungen, wenn Josie gewissen Gruppenzwängen in sogenannten Interaktionsmeetings mit Gleichaltrigen erliegt.

Kontakt zu den Gehobenen muss aber sein. Denn nur die Gehobenen bringen es zu etwas in dieser lebensfeindlich gewordenen Welt, in der die Elite regiert. Dieser Welt wie auch dem Familienhaushalt gehört Josies Vater nicht mehr an. Und auch ihr bester Freund Rick ist davon ausgeschlossen. Sie wohnen Tür an Tür irgendwo zwischen Hügeln und weiten Feldern. Die beiden Mütter versuchen ihr Bestes, um irgendwie mitzuhalten, mit mehr und weniger Erfolg.

Wer die Mittel hat, sein Kind optimieren zu lassen, auch wenn dies wie bei Josie gesundheitliche Folgen hat, bleibt Teil des Systems. Wer sie nicht hat, bleibt Außenseiter, wie Rick, dem sein natürliches Talent und Beziehungen nichts nutzen werden.

Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller »Was vom Tage übrigblieb«, der von James Ivory verfilmt wurde, den Booker Prize. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in 50 Sprachen übersetzt. Er erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur. Der Autor lebt in London.

Der Leser sieht, stellenweise nicht ohne Anstrengung, durch Klaras Augen, die sowohl äußere Gegebenheiten als auch Gefühlsregungen durchaus menschenähnlich erfassen. Aber ihnen fehlt die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Dagegen nehmen sie Unmengen an geometrischen Formen wahr, die analysiert werden müssen. Klara lernt schnell, Muster werden verinnerlicht, so stark, dass Josie und ihre Mutter die KF schon bald als Teil der Familie akzeptieren.

Trotzdem bleibt Klara nicht nur am Frühstückstisch außen vor und zieht sich irgendwann in die Besenkammer zurück, um Privatsphären nicht zu stören. Kein Grund für Klara zu schmollen oder traurig zu sein. Es ist ihr Job zu dienen und ihre Rolle nicht zu hinterfragen. Sie erkennt schließlich, dass ihre Arbeit erledigt ist, nachdem es ihr gelungen war, die Kraft der Sonne, die für sie selbst existenziell ist, auch auf Josie zu übertragen. Dadurch kann Josie gesunden und weiterleben, sodass Klara von ihrem Versprechen entbunden ist, Josies Rolle zu übernehmen.

„Ich glaube, ich habe getan, was ich konnte, um Josie zu lernen, und wäre es notwendig geworden, hätte ich alles, alles darangesetzt, sie fortzusetzen. Aber ich glaube, es hätte nicht so gut funktioniert. Nicht, weil ich keine Genauigkeit erreicht hätte. Aber wie sehr ich mich auch bemüht hätte, wäre doch etwas geblieben, das außerhalb meiner Möglichkeiten war.“

Kazuo Ishiguro
Klara und die Sonne
ISBN: 978-3-89667-693-1
Blessing Verlag
352 Seiten, 2021
gebunden 24,00 €, ePUB 18,99 €
Gleich in der Gemeindebücherei vormerken.

Unser Job als Lesende ist es, uns Gedanken zu machen, Gedanken zur Selbstoptimierung, zum Höher, Schneller, Weiter der menschlichen Spezies, zur eigenen Mutation zum künstlichen, herzlosen Geschöpf, dessen größter Feind nicht die neue Technologie, sondern der Mensch selbst ist.

Dass unser Herz noch funktioniert und wir Antworten auf die Frage erhalten haben, was es heißt zu lieben, wissen wir am Ende dieses berührenden Buchs des Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro, das er im Andenken an seine 2019 verstorbene Mutter geschrieben hat.

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